Sonntag, 8. August 2010

Veränderung.

Die letzten Tage hatten den kleinen Ort frieren lassen. Obwohl es erst später Nachmittag war, dämmerte es bereits. Die Gaslaternen auf der schmalen Hauptstraße flackerten in unregelmäßigen Abständen. Aus einigen Fenstern fiel warmes Licht auf den gefrorenen Asphalt. Ab und an huschten Umrisse von Menschen hinter den Vorhängen vorüber.

Der Mann trug einen schwarzen langen Mantel aus feinem Cashmere. Die Hose des Maßanzuges folgte der leichten Brise träge, als er sich an den Straßenrand stellte und den Kopf gen Himmel streckte. Er atmete die eiskalte Luft tief ein. Während er die Asche seiner Zigarette beiläufig abschnippte, warf er einen Blick auf sein Mobiltelefon.

"Es riecht nach Schnee. Der Winter kommt dieses Jahr früh..."

Die schlanke, großgewachsene Frau hatte den fellbesetzten Kragen ihres dick gefütterten Mantels aufgestellt. Sie war äußerst jung für jemanden ihrer Position, wenngleich sie äußerst reif und erfahren wirkte. Ihre langen dunkelbraunen Haare fielen über den Pelz auf die Schultern und den Rücken. Die hohen Absätze ihrer Stiefel hinterließen keinerlei Abdrücke auf dem Rauhreif, der sich auf den Boden gelegt hatte. Es war, als wäre sie aus dem Nichts auf der Straßenkreuzung aufgetaucht.

"Ist mir aufgefallen."

"Haben Sie eine Ahnung, wo die Straße hinführt?"

"Nicht im Geringsten. Leider. Obgleich ich neugierig bin, was das Schicksal für mich, bereithält."

Er richtete seine Krawatte. Als er seinen Kopf ins fahle Licht einer der Gaslaternen drehte um die Straße entlang zu sehen, warf die Narbe, die seine Oberlippe spaltete und erst oberhalb seines linken Auges ein Ende fand, einen Schatten in sein Gesicht. Obwohl der Wind nun eiskalt durch die Straße wehte, schien er nicht zu frieren.

"Wenn Sie neugierig sind, warum entscheiden Sie sich nicht dafür, weiter zu gehen?"

"Nichts wird mehr so sein wie es ist. Verharre ich, könnte ich etwas verpassen. Gehe ich, verliere ich womöglich etwas. Im schlimmsten Fall alles. Egal wie ich mich entscheide. Alles wird sich verändern."

Sie schnaubte arrogant, fixierte ihn mit ihrem Blick, der ihn zu durchbohren schien und vergrub ihre perfekt manikürten Hande tief in den Manteltaschen.

"Der Preis der Entscheidung. Es ist kein Privileg, die Wahl zu haben. Wir haben sie immer. Es stellt sich leidglich die Frage nach der Qualität unserer Entscheidung und wem wir es damit recht machen wollen ... Mir ist es hier eindeutig zu kalt. Ich fühle mich nicht wohl, wenn ich auf der Stelle trete. Lassen Sie uns gehen. Irgendwohin! Stillstand ist nicht besser als der Verlust eines Teils. Wenn wir hier bleiben, erfriere ich noch."

Es hatte angefangen zu schneien. Er griff in die linke Manteltasche und steckte sich eine Zigarette an. Schneeflocken blieben auf seinem schwarzen kurzen Haar liegen. Er spähte hinaus in das Dunkel, in das die Straße zu führen schien. Um ihn herum begann der Schnee, Straßen und Wege zu bedecken.
Sie begann, sich in Bewegung zu setzen. Ihre Absätze schienen den Schnee nicht einmal zu berühren.

"Kommen Sie. So oder so, nichts wird so bleiben wie es ist. Sie können nicht einfach zurückgehen und so tun als wäre nichts geschehen. Früher oder später werden Sie sich vorwerfen, stehengeblieben zu sein."

Er machte einige schnelle Schritte, um sie einzuholen.

"Woher weiß ich, ob ich das Richtige tue? Wer sagt mir, dass ich es nicht bereue..?"

"Niemand."

"Aber..."

Er wurde jäh unterbrochen, als ihm eine Windböe eine Wolke aus aufgewirbeltem Schnee ins Gesicht trieb. Er hielt den Arm vors Gesicht. Als er sich wieder orientieren konnte, war er allein. Niemand ausser ihm stand auf der vollkommen verschneiten Straße. Als er sich umsah, stellte er fest, dass er wieder an jener Straßenkreuzung stand, an der er zuvor seine Begleitung traf. Er strich sich den letzten Schnee aus den Haaren und sah auf den Boden. Da waren nur seine eigenen Schuhabdrücke, die sich einige Male um die eigene Achse drehten.

Er wollte gerade überlegen, in welche Richtung er aufbrechen sollte. Da hörte er in der Ferne Schritte. Es war das Geräusch, das hohe Absätze in Schnee hervorrufen. Sie entfernten sich. Er ging die Straße entlang, hinaus aus der kleinen Stadt, in die Dunkelheit.

Sonntag, 11. Januar 2009

Unterirdisch

Der Winter und der anhaltende Frost hatte den Boden steinhart werden lassen. Die zierliche Frau hatte ihre langen blonden Haare zu einem strengen Zopf zusammengebunden und eine schwarze Mütze übergezogen. Schweiß rann ihr über die Stirn und tropfte auf den glitzernden Schnee. Mühsam stieß sie den Spaten immer wieder in den Waldboden. Eine Sekunde hielt sie inne. Sie warf einen gehetzten Blick über die Schulter und vergewisserte sich, dass sie allein war. Dann griff sie in ihre Jackentasche und holte ein Polaroid Foto heraus. Die Szene musste schon einige Jahre alt gewesen sein. Damals waren ihre Haare kürzer und hellbraun gewesen. Sie hatte sie ihm zuliebe gefärbt, länger wachsen lassen und geglättet. Weil er auf Blondinen stand. Sie stand neben ihm, hielt seine Hand und strahlte über das ganze Gesicht. Es war ihr erster gemeinsamer Urlaub. Vor ihrem geistigen Auge konnte sie sich sehen, glücklich und zufrieden. Nichts hatte ihre Laune trüben können...

Die Luft war eiskalt. Sie schmerzte in ihren Lungen aber sie hatte noch einiges zu tun, also holte sie erneut aus und trug Schicht um Schicht des gefrorenen Bodens aus. Der Spaten blieb im Boden stecken. All ihre Kraft half nicht, ihn wieder rauszuziehen. Wäre er doch jetzt hier um ihr zu helfen. Mit seinen kräftige Armen, die ihr bei ihrem ersten Treffen so imponiert hatten. Und seinen breiten Schultern, an die sie sich so gern angelehnt hatte. Er konnte sie vor allem beschützen, redete sie sich immerzu ein. Nur nicht vor ihm selbst. Die Schläge hatten nur wenige Monate nach den Flitterwochen begonnen. Jedesmal verzieh sie ihm, um ihn nicht zu verlieren. Den Mann den sie liebte. Wut stieg in ihr auf. Der Spaten löste sich. Sie musste einen Schritt nach hinten machen um wieder Halt zu finden. Ihr Stiefel stieß gegen die schmale Kiste die hinter ihr auf dem Boden stand. Ein Grunzen aus dem Inneren ließ ihr einen Schauer über den Rücken laufen. Sie musste sich beeilen. Nicht mehr lang und würde hell werden. Sie war beinahe fertig.

Sie warf den Spaten beiseite und stemmte sich gegen die eckige Kiste, die laienhaft aus Sperrholzbrettern zusammengenagelt war. Im Inneren regte sich etwas. Jemand trommelte wie wild gegen den Deckel. Erstickte Schreie drangen in die Nacht hinaus doch hier draußen würde man Wochen brauchen um die Stelle zu finden, dachte sich die junge Frau. Das Holz würde standhalten. Sie hatte sich im Baumarkt beraten und die Bretter zurechtsägen lassen. Für eine Hundehütte. Das war ihre Ausrede. Was für ein naiver Mitarbeiter dachte sie. Eine über zwei Meter große Hundehütte. Die Kiste begann sich zu bewegen. Immer weiter, bis sie mit einem dumpfen Pochen in das Loch stürzte. Die Schreie aus dem Inneren verstummten für einen Augenblick. Dann hörte sie ihren Namen. Panisch. Die nackte Angst schwang mit ihm mit. Die Stimme flehte. So wie ihre einst flehte, aufzuhören und sie zu umarmen statt zu schlagen. Sie brachte den Angstschreien ebenso wenig Mitgefühl entgegen wie einst er den Ihren.

Sie schnappte nach Luft und sah zum klaren Himmel empor. Der Mond war der einzige Zeuge für das was sie heute Abend getan hatte. Diese unaussprechliche Tat, eine um alles zu beenden. Sie schluckte das aufkeimende Mitgefühl herunter und griff nach dem Spaten. Tränen rannen über ihre Wangen. Es war ihr kein anderer Ausweg geblieben. Sie war wieder allein. So allein wie damals, als alles begann.

»Ich habe dich geliebt...«

Sie redete sich ein, dass er sein eigenes Grab schon vor langer Zeit geschaufelt hatte. Sie war lediglich verantwortlich für die entgültige Ausführung. Doch ihr eigenes Herz hat sie selbst begraben. In jener Nacht, in dem kalten Erdloch in dem auch er liegt. Für immer.